Willkommen im Hier und Jetzt: US-Strategiepapier aus dem Jahr 1996 belegt nicht nur, dass die Ausschaltung Arafats, die Annexion palästinensischer Gebiete und der Sturz Saddam Husseins im Irak seit Mitte der Neunzigerjahre geplant war, sondern auch, dass das gegenwärtige Geschehen, nämlich die Destabilisierung und schlussendlich die vollständige „Umgestaltung des Großen Mittleren Ostens", seit fast 20 Jahren fest steht. Die aktuellen Ereignisse in Syrien und Irak sowie die Verstrickungen des Islamischen Staates, stellt die genaue Umsetzung eines US-Strategiepapiers aus dem Jahr 1996 dar. Der IS ist nicht der Gegner, sondern fester Bestandteil einer geopolitischen Doktrin von USA und Israel die als «Konstruktives Chaos» bezeichnet wird. Die Frage, warum Amerikaner und Briten immer mal wieder "versehentlich" Waffen an den IS liefern, erübrigt sich also.
von Thierry Meyssan
Die Neokonservativen Und Die Politik Des «Konstruktiven Chaos»
In Washington und Tel Aviv frohlockt man über die laufenden Militäroperationen im Mittleren Osten. Die Leiden des Libanon sind nach den Worten von Condoleezza Rice die „Geburtswehen eines neuen Mittleren Ostens". Für die Theoretiker des „konstruktiven Chaos" ist es nötig, Blut fließen zu lassen, um eine neue Ordnung in der an Erdöl und Erdgas reichen Region durchzusetzen. Von langer Hand geplant, wird die Offensive von Tsahal, der israelischen Armee, gegen den Libanon aus dem Verteidigungsministerium der Vereinigten Staaten heraus beaufsichtigt.
Bei ihrer Pressekonferenz im State Department am 21. Juli 2006 wurde Condoleezza Rice danach gefragt, welche Initiativen sie zu ergreifen gedenke, um im Libanon wieder Frieden einkehren zu lassen. Sie antwortete: „Ich bin nicht an Diplomatie interessiert, nur um Israel und Libanon zum Status quo ante zurückzuführen. Ich denke, dies wäre ein Fehler. Was wir hier sehen, ist in gewissem Sinne das Entstehen - die Geburtswehen eines neuen Mittleren Ostens, und was immer wir tun, wir müssen sicher sein, dass wir auf einen neuen Mittleren Osten drängen, nicht zu dem alten zurückzukehren." [1]
Aus der Washingtoner Sicht hat das Geschehen im Libanon keinen Bezug zur Befreiung der Soldaten, die von der Hezbollah gefangen genommenen wurden. Worum es geht, ist die praktische Umsetzung der seit langem ausgebrütete Theorie des „konstruktiven Chaos". Nach Meinung der Anhänger des Philosophen Leo Strauss, deren Medien-Abteilung unter der Bezeichnung „Neokonservative" bekannt ist, erfolgt die Ausübung wirklicher Macht nicht im Zustand des Stillstands, sondern im Gegenteil durch die Zerstörung jeder Form von Widerstand. Gerade dadurch, dass sie die Massen in ein Chaos stürzen, können die Eliten auf die Stabilität ihrer Stellung hinarbeiten.
Nur in dieser Gewalt - so weiter die Meinung der Anhängern von Leo Strauss - stimmen die imperialen Interessen der Vereinigten Staaten mit denen des jüdischen Staates überein.
Die israelische Entschlossenheit, den Libanon zu zerschlagen, dort einen christlichen Mini-Staat zu schaffen und einen Teil seines Staatsgebietes zu annektieren, ist nicht neu. Sie wurde 1957 von David Ben Gurion in einem berühmten Brief verkündet, der im Anhang zu seinen posthumen Memoiren veröffentlicht ist [2]. Vor allem aber wurde er inhaltlich in das umfassende Projekt der Kolonisation des Nahen Osten übernommen, das 1996 unter dem Titel „Ein eindeutiger Bruch: Eine neue Strategie zur Absicherung des Königreichs (Israel)" verfasst wurde. [3] Dieses Dokument, im Rahmen der neokonservativen Denkfabrik „Institute for Advanced Strategic & Political Studies (IASPS)" verfasst, wurde von einer von Richard Perle zusammengestellten Expertengruppe erarbeitet und Benjamin Netanyahu überreicht. Es ist repräsentativ für die Gedankenwelt des revisionistischen Zionismus von Wladimir Jabotinsky. [4] Es sieht folgendes vor:
- Kündigung der Oslo-Friedensabkommen
- Ausschaltung Arafats
- Annexion palästinensischer Gebiete
- Sturz Saddam Husseins im Irak, um als Kettenreaktion Destabilisierung von Syrien und Libanon
- Zerschlagung des Irak sowie auf seinem Territorium Schaffung eines palästinensischen Staates
- Nutzung Israels als komplementaire Basis des Programms der USA für einen Krieg der Sterne.
Dieses Dokument fand seinen Niederschlag in der kurz darauf gehaltenen Rede von Benjamin Netanyahu vor dem Kongress der Vereinigten Staaten. [5] Man findet darin alle Bestandteile der gegenwärtigen Lage: Drohungen gegen Iran, Syrien und die Hezbollah, sowie obendrein die Forderung nach einer Annexion Ost-Jerusalems. Diese Position deckt sich mit derjenigen der US-Regierung. Die Kontrolle über die an Erdöl und Erdgas reichen Gebiete, von Zbignew Brzezinki und Bernard Lewis als « Krisenbogen » bezeichnet, d.h. vom Golf von Guinea über den Persischen Golf bis zum Kaspischen Meer, setzt eine Neudefinition der Grenzen, der Staaten und der politischen Regime voraus, nach dem Ausdruck von George W. Bush: eine „Umgestaltung des Großen Mittleren Ostens".
Dies ist der neue Mittlere Osten, dessen Hebamme Fräulein Rice zu sein vorgibt und den sie unter Wehen zur Welt kommen sieht.
Die Idee ist simpel : Man setze an die Stelle der aus dem Untergang des Ottomanischen Reiches entstandenen Staaten kleinere Einheiten mit monoethnischem Charakter, man neutralisiere diese Mini-Staaten, indem man sie permanent gegeneinander ausspielt. Anders ausgedrückt, handelt es sich hierbei um eine Revision der Geheimabkommen von 1916 zwischen dem britischen und französischen Imperium, des so genannten Sykes-Picot-Abkommens [6], und damit wäre dann künftig die totale Herrschaft der Angelsachsen über die Region abgesegnet. Aber um neue Staaten zu definieren, muss man immerhin noch die bestehenden vernichten. Diesem Geschäft widmen sich nunmehr seit fünf Jahren die Bush-Administration und ihre Verbündeten mit der Begeisterung von Zauberlehrlingen. Man urteile selbst über das Ergebnis:
Das besetzte Palästina wurde um 7 Prozent seines Territoriums beschnitten ; der Gaza-Streifen und die Westbank wurden physisch durch eine Mauer von einander getrennt; die Palästinensische Behörde wurde zerstört, ihre Minister und Abgeordneten wurden entführt und eingesperrt.
Die UNO machte dem Libanon zur Auflage, sich durch die Vertreibung der syrischen Streitkräfte und die Auflösung der Hezbollah zu entwaffnen; der ehemalige Premierminister Rafic Hariri wurde ermordet, und mit verschwand der französische Einfluss; die wirtschaftliche Infrastruktur des Landes wurde platt gemacht; mehr als 500.000 weitere Flüchtlinge irren in der Region umher.
Im Irak wurde die Diktatur von Saddam Hussein durch ein noch viel grausameres Regime ersetzt, das 3000 Tote im Monat verursacht; in vollständiger Anarchie ist das Land nun zur Zerstückelung in drei verschiedene Einheiten bereit.
Das Pseudo-Emirat der Taliban wich einer Pseudo-Demokratie, in der immer noch die obskurste Interpretation der Schariah vorherrscht und obendrein der Mohnanbau. De facto ist Afghanistan bereits unter die Kriegsherren aufgeteilt, und die Kämpfe werden zu einer allgemeinen Erscheinung. Die Zentralregierung hat darauf verzichtet, sich Gehör zu verschaffen, und zwar auch in der Hauptstadt.
In Washington träumen die Anhänger von Leo Strauss immer ungeduldiger davon, ihr Chaos auf den Sudan, auf Syrien und auf Iran auszudehnen. In dieser Übergangsphase ist nicht mehr von „Demokratie des Marktes" die Rede, sondern direkt von Blut und Tränen.
Jacques Chirac, der sich im Libanon einmischen wollte, um dort die letzten französischen Interessen zu verteidigen, und seinen Premierminister Dominique de Villepin dorthin entsandte, musste klein beigeben: Beim G8-Gipfel in Sankt Petersburg erteilte George W. Bush ihm ein Verbot mit den Worten, es handele sich nicht um eine israelische Operation, die von den USA gebilligt wird, sondern um eine Operation der USA, die von Israel ausgeführt wird. Auf einmal hatte Herr de Villepin seinen Gesprächspartnern in Beirut nichts weiter zu sagen als schöne Worte und seine Ohnmacht zu erklären.
Genau genommen wurde das Projekt der Zerstörung des Libanon der Bush-Regierung durch Tsahal vor etwas mehr als einem Jahr vorgestellt, wie der San Francisco Chronicle enthüllte. [7] Es war Gegenstand politischer Gespräche beim Weltforum, das vom American Enterprise Institute wie jedes Jahr am 17. und 18. Juni 2006 in Beaver Creek veranstaltet wurde. Benjamin Netanyahu und Dick Cheney unterhielten sich lange darüber im Beisein von Richard Perle und Nathan Sharansky. Das grüne Licht vom Weißen Haus erfolgte in den Tagen danach.
Die Militäroperationen von Tsahal werden vom Verteidigungsministerium der USA überwacht. Dieses bestimmt im Wesentlichen die Strategie und die Auswahl der Ziele. Die Hauptrolle ist General Bantz Craddock übertragen worden, der im übrigen Oberbefehlshaber des South Command ist. Craddock ist Fachmann für Panzerkriegführung, was er während der Operation „Wüstensturm" gezeigt hat, und vor allem, als er die Bodentruppen im Kosovo kommandierte. Er ist ein Vertrauensmann von Donald Rumsfeld, dessen besonderen Generalstab er geleitet hat, und für den er das Gefangenenlager Guantanamo entwickelt hat. Kommenden November dürfte er zum Oberbefehlshaber des European Command der NATO ernannt werden. In dieser Eigenschaft könnte er die Eingreiftruppe der NATO befehligen, die im Süden des Libanon eingesetzt werden könnte, zusätzlich zu denjenigen, welche die NATO bereits im Afghanistan und Sudan eingesetzt hat.
Die israelischen und US-amerikanischen Generäle haben sich seit etwas dreißig Jahren mit einander vertraut gemacht, und zwar dank der Austauschprogramme, die von dem jüdischen Institut für Nationale Sicherheitsfragen (Jewish Institute for National Security Affairs - JINSA) organisiert werden, einer Vereinigung, die ihren Mitarbeitern die Teilnahme an Seminaren zum Studium der Gedankenwelt von Leo Strauss zur Pflicht macht.
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Querverweise:
[1] « But I have no interest in diplomacy for the sake of returning Lebanon and Israel to the status quo ante. I think it would be a mistake. What we're seeing here, in a sense, is the growing — the birth pangs of a new Middle East and whatever we do we have to be certain that we're pushing forward to the new Middle East not going back to the old one ». Quelle: Special Briefing on Travel to the Middle East and Europe, U.S. State Department, 21 juillet 2006.
[2] « Brief von David Ben Gurion an Moshe Sharett über die Schaffung eines Maronitenstaates im Libanon» («Lettre de David Ben Gourion à Moshe Sharett sur la constitution d'un État maronite au Liban ». Das Dokument kann in der elektronischen Bibliothek von Réseau Voltaire eingesehen werden.
[3] A Clean Break : A New Strategy for Securing the Realm, IASPS, 8 juillet 1996. Eine gekürzte Fassung ist auf der Webseite von IASPS verfügbar. Der vollständige Inhalt des Dokuments wurde durch die seinerzeitige Wiedergabe in « The Guardian » bekannt.
[4] Der Vater von Benjamin Netanyahu, Ben-Zion Netanyahu, war der Privatsekretär von Wladimir Jabotinsky, des Begründers des revisionistischen Zionismus. Ehud Olmert gehört derselben Strömung an.
[5] Rede von Benjamin Netanyahu vor dem Kongress der Vereinigten Staaten am 9. Juli 1996.
[6] Dieser Vertrag wurde am 16. Mai 1916 von Sir Mark Sykes und François Georges-Picot für das Vereinigte Königreich und Frankreich unterzeichnet und dann von Italien und Russland gebilligt.
[7] « Israel set war plan more than a year ago. Strategy was put in motion as Hezbollah began gaining military strength in Lebanon » von Matthew Kalman, San Francisco Chronicle, 21 juillet 2006.
Übersetzung aus dem Französischen: Klaus von Raussendorff, ursprünglich erschienen unter:
Facebook: voltairenet.org
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